2-Mein Leben – meine andere Oma

Erster Teil hier

Meine andere Oma

– die Christine (Grischde auf Schwäbisch) geboren im Januar 1877 in Neufen auf der Schwäbischen Alb; zum Herrn gegangen im Juni 1962

Das Außergewöhnliche an meiner anderen Oma war, dass sie taub war. Was ich noch im Ohr von ihr habe, sind ihre Freudensausbruchslaute, die sich so anhörten: „agaiduer“. Sie lebte im Nachbarort und wir besuchten sie oft sonntags. Und wann immer sie uns kommen sah rief sie freudig dieses „agaiduer“ aus. Was das bedeutet, wusste niemand. Ich hab sie einmal darauf angesprochen, aber sie hat mich nur verdutzt angeschaut, wusste nicht, was ich meine. Sie hat einfach ihrer Kehle sozusagen freien Lauf gelassen, das herauskommen lassen, was ihre Freude ausdrückt. (Seltsamerweise, wenn mir der Namen des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan nicht einfallen will, muss ich nur an meine Oma und ihr „agaiduer“ verkehrt herum denken und schon erinnere ich mich.)

1-stöckige Pyramide Laternenkinder (19 cm) von Richard Glässer |  Weihnachtspyramiden, Traditionelle weihnachtsdekoration, PyramideJemand hat ihr einmal zu Weihnachten so eine hübsche, einstöckige  Pyramide geschenkt, mit Hirten und den 3 Weisen, die sich, wenn die Kerzen an waren, im Kreis um Joseph und Maria und Baby Jesus drehten. Doch diese Pyramide hatte an den Propellern kleine Glöckchen, die klingelten, wenn sich die Propeller drehten. Meine Oma hatte viel Freude daran, das zu sehen, nicht nur die im kreisgehenden Figuren, sondern auch die Glöckchen wie sie sich nach außen schwangen beim Drehen, zuerst nur langsam, aber mit steigender Hitze schneller wie bei einem Kettenkarussell. Sie hörte das Klingeln nicht, doch uns Hörenden ging das allerdings mit der Zeit ziemlich auf die Nerven. Jemand hat dazu gemeint, dass derjenige es wohl aus dem Grund es ihr geschenkt hat, weil es ihnen auch auf die Nerven ging, also schenken wir es der tauben Christine die hört es ja nicht. Niemand wollte ihr das aber sagen, da sie es nicht hätte verstehen können und womöglich dachte, man wolle ihr die Freude daran nehmen.

Ihre Mutter war hochschwanger die Kellertreppe hinuntergefallen und die Ärzte meinten, dass dabei dem Kind bei dem Aufprall am Boden die Ohrtrommeln geplatzt sind, da im Wasser Geräusche sehr verstärkt werden. Christine war also von Geburt an taub, hat aber in einer Taubstummenschule Lippenlesen und auch sprechen gelernt. Dort hat sie auch meinen Opa kennen und lieben gelernt und schließlich geheiratet. Sie hatten zusammen 9 Kinder, davon starben allerdings 5 im Kleinkindalter.

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Mein Opa (66) ganz links und meine Oma (59) rechts bei der Konfirmation meiner Mutter und ihre 3 älteren Geschwister.

Sie muss ziemlich viel durchgemacht haben, ich kann mir auch nicht vorstellen, wie sie das mit den Babys schaffte, da sie die ja nicht weinen hörte. Aber die Tauben (damals gab es den Begriff gehörlos noch nicht, niemand dachte sich auch bei taub etwas Schlimmes dabei) haben in allem ihre eigenen Tricks. Als ich meine Oma einmal alleine besuchte, hatte sie Besuch von ehemaligen Schulfreunden. Sie saßen um den Kaffeetisch und schienen sich den Gesten und Gesichtern nach angeregt zu unterhalten, doch habe ich nichts davon mitbekommen. Was ich lustig fand, war, wenn jemand jemanden anderen was sagen wollte, der oder die aber nicht herschaute, warfen sie demjenigen einfach eine kleine Papierkugel zu, um deren Aufmerksamkeit zu bekommen. Ich hatte den größten Spaß, dieser lustigen, lautlosen Gesellschaft zuzusehen und nur die seltsamen leisen Geräusche von Lippenbewegen und Lachen zu hören.

Meine Mutter erzählte die lustigsten Geschichten über ihre taube Eltern, ich wünschte, ich hätte sie mir aufgeschrieben, da ich mich heute nur noch an weniges erinnere. Mein Opa war ein Künstler, kann man sagen. Er hat dieMöbelschnitzerei Schnitzkunst erlernt und hat als Erwerb Holzkreuze für den Friedhof geschnitzt und auch Möbelstücke verziert. Doch wie das alles außer Mode kam, musste er in einer Möbelfabrik als einfacher Arbeiter arbeiten, was ihm nicht leicht fiel, wie man sagte. Er verstarb 2 Jahre bevor ich geboren wurde, ich habe ihn also nie kennengelernt, wie auch meinen anderen Opa nicht.  Meine Mutter war die Jüngste und ihre Mutter war bei ihrer Geburt schon 45 und ihr ältester Bruder heiratete in demselben Jahr, sein erstes Kind war also nur knapp ein Jahr jünger als meine Mutter oder anders herum gesagt, meine Mutter wurde mit ½ Jahr alt Tante. Das war damals nichts Ungewöhnliches, Kinder wurden nicht geplant so wie heute.

So viele sehen es heute als ein Fluch für die Frauen von damals an, dass sie ein Kind nach dem anderen hatten. Doch ich bin der Meinung, der Fluch lag daran, dass Frauen besonders in Städten so wenig Hilfe hatten. Auf dem Land lebten die Menschen noch in Großfamilien zusammen, wo die Älteren von ihnen, die keine so schwere Arbeit mehr leisten konnten, auf die Kinder aufpassten. Auch teilte man sich Arbeiten sehr viel mehr, wie kochen, waschen, putzen und Stall- und Gartenarbeit zur Selbstversorgung. Die Gesellschaftsform in Städten war einfach nicht daraus ausgerichtet – und heute ist sie es allgemein noch viel weniger – sich gegenseitig eine Hilfe zu sein, was ja das wirklich Christliche gewesen wäre und noch wäre. In der Apostelgeschichte 2,44-45 heißt es: „Alle Gläubiggewordenen aber waren beieinander und hatten alle Dinge gemeinsam. Ihre Güter und ihren Besitz verkauften sie und teilten sie unter alle, je nachdem, was einer brauchte.“ – das hört sich ziemlich kommunistisch an, jedoch taten sie es freiwillig aus Überzeugung, während der Kommunismus eine auferzwungene Sache war und deshalb auch nicht funktionierte, weil die Liebe für Gott und den Nächsten fehlte.

Die katholische Kirche brüstet sich gerne, dass sie die Mutterkirche ist und das ist sie auch, die erste aller nachfolgenden Kirchenorganisationen, aber sie hat sehr wenig mehr mit dieser Urkirche der Apostelgeschichte zu tun, wo die Liebe regierte, nicht die mosaischen Gesetze – 10 Gebote – die keine Gebäude für die Anbetung hatten und keine Priester, die für die Gläubigen vor Gott eintraten, denn ihr Hohepriester war Jesus und nur er. (Hebräer 4,14-5,10) Wie das christliche Leben wirklich aussah, davon habe ich hier geschrieben.

Meine Mutter arbeitete in einer Strickwarenfabrik in der naheliegenden Stadt, ich habe davon hier schon geschrieben, wie sie sich Fadenreste erbat und daraus Sachen machte, wie die schöne Tischdecke. Und da sie das einzige Kind noch zu Hause war, war ihr erlaubt, wenn Bombenangriffswarnungen kamen, nach Hause zu radeln, um nach ihren Eltern zu sehen.

Bildergebnis für leiterwagenEinmal war ihr Vater auf dem Feld (damals war man auf dem Land noch Selbstversorger) und hörte die Warnsirenen natürlich nicht. Meine Mutter ist dann schnell zu ihm geradelt, hat dann seinen Leiterwagen an ihr Fahrrad gebunden, ihren Vater reingesetzt und ist so schnell sie konnte mit ihm nach Hause geradelt und zum Schutz in den Keller. Wenn nachts jedoch Bombenalarm war, konnte sie ihre Eltern zuerst nicht davon überzeugen, ihr warmes Bett zu verlassen, um in den Keller zu gehen. „Lass mich schlafen“ wehrten sie ab, waren ja nicht von den Sirenen alarmiert und in Angst versetzt so wie die Hörenden und meine Mutter musste alleine in den Keller. Wie jedoch einmal eine Bombe in ein Haus in ihrer Nachbarschaft einschlug und die Erde zum Beben brachte und die Betten ihrer Eltern durchrüttelte, kamen sie in Eile in den Keller gelaufen. Meine Mutter sagte, wie sehr sie gelacht hat, trotz der ernsten Situation, wie ihre Eltern da in ihren Nachthemden angerannt kamen, mit schockierten, angstverstörten Gesichtern. Was die Sirenen bei ihnen nicht ausrichten konnten, konnten die wackelnden Betten. Mir das vorzustellen, fand ich auch lustig, obwohl die Situation alles andere als lustig war. Was meine Mutter immer zu der Geschichte dazu fügte war, dass an diesem Alarm das Schlimmste war, dass du nicht gesehen hast wo die Bomben herkamen und einschlagen werden, sondern sie nur das heulende Pfeifen der Bomben hörte und sie dann nur noch mit zitterndem Herzen hoffen (beten) konnte, dass sie nicht in ihr Haus einschlagen werden. Das war angeblich Hitlers Idee, an Bomben Pfeifen anzubringen, die dem Feind Angst und Schrecken einjagen sollten. Doch der „Feind“ tat dann das gleiche und die Angst und der Schrecken wurde zurückgeworfen auf die Deutschen – gibt es etwas Schrecklicheres als Krieg? Man diskreditiert und erklär andere als „Feind“ und hat dann das Recht, den zu vernichten. Dank Gott diese Denkweise wurde nach dem 2.Weltkrieg hier in Europa ziemlich verworfen, nur leider hängen bestimmte Länder, Religionen und Gruppen immer noch an solch einer Denkweise, dass du etwas besseres bist als andere, fest, was immer noch Kriege, fataler Terror und Unruhen und Streit auslöst. Was für ein Mittel gegen den Krieg es gibt und aufzuhören uns ein künstliches Feindbild unserer Mitmenschen zu schaffen und stattdessen zu lernen, sie zu lieben, wie Jesus es uns ans Herz gelegt hat könnt ihr hier lesen.

Meine Oma war auch Schneiderin und sehr geschickt mit ihren Händen.

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Meine Mutter, die Tante, mit ihrer Nichte in einem von meiner Oma geschneiderten Kleid, damals todschick.

Sie hat ihre Familie mit schönen Kleidern versorgt und auch gebastelt, schöne Blumen aus feinem Garn gehäkelt und mit Draht verstärkt zu einem künstlichen Strauß gebunden. Sie konnte aber auch mit 8 Bällen jonglieren und machte Tricks bei denen sie einen Kaffeelöffel an die Kanne band und andere aufforderte, durch ziehen an nur einem Strang den Löffel zu befreien. Keiner hat das je geschafft, nur sie.

Eine Kirchenzugehörigkeit war damals wichtig, wenn man als ein unbescholtener Bürger gellten wollte. Da meine Oma jedoch die Lippen des Pfarrers in der Kirche nicht lesen konnte, hat sie stattdessen zu Hause die Bibel gelesen, während viele andere ein Nickerchen in der Kirche hielten. Sie wohnte am Rand eines kleinen Dorfes, wo jeder jeden kennt und saß oft an ihrem Fenster zur Straße hin, wo Bauern auf ihrem Weg zum Feld vorbeikamen, grüßten und ein paar Worte wechselten. Sie hatte auf dem Fenstersims eine kleine Tafel und Griffel falls es mit der Kommunikation nicht so klappen sollte und daneben lag auch ihre Bibel.

Sie hat oft zu den Leuten gesagt, dass es schlimm kommen wird, denn sie hat gesehen, wie die Menschen sich nach dem 2. Weltkrieg so sehr verändert haben – mehr und mehr materialistisch gesinnt. Sie war sehr rüstig und konnte für sich selbst sorgen bis sie 84 wurde. Doch dann wurde sie plötzlich krank und bettlägerig, hat schon ein wenig gelitten und war nicht immer guten Mutes. Jedes Mal wenn wir sie besuchen kamen, jammerte sie ein wenig und klagte, dass sie nur noch eine Last ist (sie konnte nichts mehr halten und brauchte Windeln und Wehwerfwindeln gab es ja noch nicht)) und sie sosehr zu ihrem Heiland gehen möchte. Fast ein Jahr später kam meine Tante, die, zusammen mit meinem Onkel, im gleichen Haus wohnte und sie versorgte, eines Morgens ins Zimmer und sah sie im Bett liegen, mit dem strahlendsten Freudeslächeln auf dem Gesicht. Sie dachte, o heute ist sie aber guter Laune und hat sie mit Lippenlaute angesprochen, doch keine Reaktion bekommen. Sie dachte, sie ist vielleicht zu sehr im Schatten und kam näher. Erst dann merkte sie, dass sie gar nicht mehr da war. Sie strahlte noch, als wäre ihr Heiland höchst persönlich gekommen, um sie abzuholen. Sie war weg, doch ihr strahlender Blick blieb noch lange danach auf ihrem toten Körper haften.

Und so wie die Kunde sich im Dorf verbreitete, dass sie gestorben war, so verbreitete sich auch die Geschichte über ihr strahlendes Lächeln. Einige sagten, dass es ihnen die Furcht vor dem Sterben genommen hat, aber sie alle waren sich auch bewusst, wie sehr Christine an ihren Heiland geglaubt hat.

Hast du auch diesen Frieden im Herzen mit der Gewissheit, wo du einmal hingehen wirst, wenn du dieses irdische Haus verlässt?

  • Fortsetzung meiner Lebensgeschichte hier

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