Erster Teil hier
Seit ich zu der Erkenntnis gekommen bin, wie wenig ich das Gute in meiner Mutter sehen konnte, fällt es mir schwer, weiter über mein Leben zu schreiben, denn da blieb fast nur Negatives in der Erinnerung hängen. Das Gute und Schöne wird allzu leicht vom Negativen verdrängt
Aber so war ich und das Leben damals nun mal. Ich selbst kannte die Liebe Gottes für mich nicht und meine Mitmenschen um mich her auch nicht. Eine harte, widerstandfähige Schale entwickeln und starke Ellbogen, waren in dieser Erfolgsgesellschaft erforderlich.
Doch ich war eine sehr sensible Seele, die leicht verletzt werden konnte. Meine ältere Schwester war eher das Gegenteil, hart im nehmen und hart im Geben. Ich frage mich, ob diese Härte daher rührte, dass sie die Erstgeborene war, also sich die Welt zuerst nur um sie gedreht hat und plötzlich war da ich und habe sie von diesem Platz verdrängt? Um den inneren Schmerz, der durch diese vermeintliche Verdrängung entstand, entgegenzusteuern, hat sie deshalb diese Härte, frage ich mich, als Schutzmauer gebaut?
Jedenfalls haben wir uns nie vertragen, gingen in so ziemlich allem weit auseinander und haben uns oft gestritten. Als Kinder haben wir oft einen Knoten in unsere dicken, selbstgestrickten Strümpfe gemacht und uns mit diesem Knoten gegenseitig über die „Rübe“ gehauen. Einmal ging dabei eine Nachttischlampe zu Bruch und meine Mutter kam bei dem Krach hereingestürzt, hat uns aber nicht ausgeschimpft, sondern irgendein Verständnis für uns gemurmelt. Ich weiß noch, dass ich da, sosehr ich Strenge hasste, doch nicht anders konnte, als sie wegen ihrer Weiche zu verachten. Ich wusste, wir waren schuldig und hätten eine Strafe verdient – Kinder haben einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit! Oder zumindest hätte sie doch mit uns reden sollen, über unser ständiges Streiten.
Sie hat mich auch davon kommen lassen, wenn ich die versteckten Süßigkeiten fand und sie nach und nach aufaß. Sie versteckte sie, weil sie wusste, was für ein Zuckerholiker ich war und sie einfach essen musste, auch ohne zu fragen. Aber in meinen Augen war das stehlen und ich fand es nicht richtig, dass sie mich nie dafür zurechtgewiesen hat. Hat sie mich davonkommen lassen, weil sie selbst heimlich auch so gerne Süßes aß, vor allem Törtchen? Als Kind war für sie das Angebot an Süßem gering, sie hatte ja auch kein Geld dafür – Taschengeld kannte noch nicht mal ich. Und dann war da der Krieg der eine Menge Entbehrungen mit sich brachte, so die Verführung von den Auslagen in den Bäckereien war nun groß.
Mit den Jahren und den aufkommenden Strumpfhosen haben meine Schwester und ich uns dann nicht mehr mit Strümpfen attackiert, sondern, wenn wir uns in den Haaren lagen, handgreiflich verprügelt. Sie mag als ältere die Stärkere gewesen sein, aber ich versuchte immer, sie durch bessere Taktik zu besiegen. Wenn sie mich aufs Bett oder den Boden gedrückt hatte mit einem Knie auf meinem Bauch und damit Sieger war, lernte ich meine Beine anzuziehen und sie mit einem Ruck wegzustoßen. Gegen meine Beine konnte sie nie gewinnen, nur noch durch Worte. Und die haben mich so viel mehr geschmerzt, als ihre Hände an meinen Schultern und ihr Knie auf meinem Bauch. Ihre Worte rannen nicht einfach von mir ab, sondern gruben tiefe Wunden und Narben, aus denen mit der Zeit starke Minderwertigkeitskomplexe wurden.
Sie hatte eine Freundin in unserer Nachbarschaft, die Flüchtlinge waren. Mein Vater hat keinen Hehl daraus gemacht, dass er sie hasste und verachtete. Weil sie aus Bessarabien waren, nannte er sie bessere Araber und meinte, denen wird das Geld von der Regierung in den Arsch gesteckt, weil sie ja alles verloren hatten, aber die Deutschen, von denen viele auch alles verloren hatten und mit nichts anfangen mussten, so wie meine Eltern, bekamen nichts, müssen dafür aber für diese armen Vertriebenen schuften – ein Neid, den viele Deutsche damals hatten. Sie waren die ersten in unserer Nachbarschaft, die einen Fernseher hatten. Und weil meine Schwester eben mit der Tochter befreundet war, kam sie in den Genuss des Fernsehens. Aber ich wollte auch Fernsehen, die „Bonanza“ und „Soweit die Füße tragen“ Serien und habe vor meiner Mutter darauf bestanden, dass sie mich mitnimmt. Sie musste es dann wohl oder übel tun, aber sie hat es immer gehasst ihre kleine Schwester mitschleppen zu müssen und hat mich das auch mit hässlichen Worten wissen lassen. Ich war glücklich Fernsehen zu können, aber im Inneren nagte es auch in mir, negative Gedanken schlugen Wurzeln, dass ich unmöglich bin und deshalb wollte meine Schwester mich nicht mitnehmen.
Einmal waren wir im evangelischen Gemeindesaal und schauten uns einen Dokumentarfilm über Indianer in Amerika an. Es zeigte die Ungerechtigkeit und das Leid, das die Amerikaner – die besseren Weißen – diesen „Wilden“ antaten. Es zeigte besonders eine Familie – Großfamilie mit Onkeln und Tanten – die in ein Ghetto gesteckt werden sollten. Sie entkamen dem knapp, konnten jedoch nicht genügend Vorräte auf ihrer Flucht in die Berge mitnehmen. Sie schickten deshalb einen jungen Erwachsenen und einen Teenager Jungen zurück und wollten sie dann später in einer bestimmten Höhle in den Bergen wieder treffen. Doch die beiden wurden geschnappt, der Erwachsene ins Getto gesteckt und der Junge in ein Heim. Dort schnitten sie ihm die Haare und zwängten ihn in ihre Lebensweise. Er konnte schließlich entkommen und floh zu der Höhle, wo er hoffte, seine Familie zu treffen. Doch wie er ankam, fand er nur noch vertrocknete Leichen von seiner Familie wieder. Sie sind lieber verhungert, als in ein Ghetto zu gehen. Ich war tief erschüttert. Lag abends im Bett und habe geheult und meine Schwester angebettelt, zu sagen, dass das nicht wahr ist, das nicht wirklich geschah. Ich sah immer noch das schmerzhaft entsetzte Gesicht von dem Jungen und die Knochen in der Höhle. Meine Schwester ist schließlich wütend geworden und hat gemeint, dass das nur ein Film sei und ich endlich Ruhe geben soll. Aber solches hat in mir einen Hass gegen die Wirklichkeit aufgebaut, zusätzlich zu dem Geld-Hass, den ich durch meine Eltern bekam, dadurch dass ihr Geschäft immer zuerst kam, was mich Geld hassen machte.
Ich vergrub mich immer mehr in Tagträume, wo die Welt nur schön und alles perfekt war und es nur liebe Menschen gab. Ich träumte sogar davon, dass eines Tages ein Ehepaar kommt, die irgendwelche Beweise hatten, dass ich als Neugeborenes vertauscht wurde und ihr Kind sei und mich mitnahmen, in eine Welt, wo ich die Liebe und Aufmerksamkeit und Anerkennung bekam, die ich zu Hause so sehr vermisste.
Es gab so viele schöne Momente zu Hause, doch die vergaß ich allzu rasch, wenn es nicht so gut lief oder es Probleme gab. Ich war eine Heulsuse, würde ich sagen, jemand der nicht kämpfen und Probleme angehen wollte.
Wie oft stand ich nachts am Fenster und hab dem Mond etwas vorgeheult. Ich war unglücklich, weil meine Situation nicht so war, wie ich es mir gewünscht hätte und ich hatte niemanden, mit dem ich mein Herz teilen konnte.
Ein schlimmer Schlag versetzte mir auch die Zurückweisung meiner Freundin, als sie in der 5. Klasse in die Realschule wechselte, während ich in der Volksschule (heute Grundschule) blieb und mich dann nicht mehr als Freundin wollte. Ich wäre auch gerne in die Realschule mit meiner Freundin übergewechselt, aber mein Klassenlehrer riet meinen Eltern das ab, meinte, dass ich das nicht schaffe, weil ich so verträumt bin und solch intensiveres Lernen nicht aushielte. Wieder etwas, das mir das Gefühl gab, einfach nicht normal und minderwertig zu sein. Dazu fühlte ich mich noch so dumm, dass meine Freundin nur noch Freundinnen von ihrer intelligenteren Ebene haben wollte. Aber anstatt mehr in der Realität zu leben und zu lernen zu kämpfen, zog ich mich umso mehr ins Träumen zurück oder ins Bücher lesen mit schönem Ende.
Wie ich 10 war, wurde meine Mutter „aus Versehen“ nochmals schwanger. Und was ist aus dem ’nicht geplanten‘ Kind geworden? Der zuvor so ersehnte Stammhalter. Doch mein Vater war nicht mehr der Gleiche. Er behandelte seinen Sohn ganz anders als uns Mädchen, vor allem mich, fand ich. Ich war nach wie vor diejenige, mit der er Dinge tat und vor allem erwartete, dass ich sein Bekleidungsgeschäft übernehme.
Ich war irgendwie weiterhin sein Liebling, doch nicht um mich zu verwöhnen, sondern er erwartete von mir, so zu sein, wie es ihm Freude machte und wie er es erwartete, dass ich bin. Liebling ist vielleicht nicht das richtige Wort, er setzte nur all seine Wünsche und Hoffnungen in mich. Doch warum ich? Warum setzt er seine Erwartungen jetzt nicht in meinen Bruder? – Ich habe dazu nie eine Antwort bekommen.
Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich, wie alle Mädchen damals, noch Zöpfe. Doch zu meinem 10. Geburtstag „schenkte“ mir mein Vater eine „Bubikopf“-Frisur, da meine Mutter, wenn das Geschwisterchen (das Wort Baby war damals noch nicht geläufig) mal da ist, keine Zeit zum Zöpfe flechten mehr haben würde, wie er sagte. Doch ich denke, ihm ging auch das Gezetere von mir auf die Nerven, wenn es beim Kämmen rupfte. Und der Bubikopf war sowieso der neueste Schrei, und mein Vater, als Schneidermeister immer darauf bedacht, nach der neuesten Mode zu gehen.
Ich weiß noch, wie ich am nächsten Tag in die Schule kam, standen alle um mich herum, wie um ein exotisches Tier oder jemand von einem andren Planeten. Ich war das erste Mädchen in meiner Schule mit Bubikopf. Ich fühlte mich total peinlich und mochte es gar nicht mehr, dass mein Vater mir einfach die Haare schneiden lies, ohne mich vorher zu fragen oder auch nur einzuweihen. Ich habe mich nur gewundert, warum er mich zum Friseur mitnahm. Aber es hat danach nicht lange gedauert, bis alle Zöpfe in der Schule ab waren. Nur ein paar Altmodische hatten sie noch. Alle Mädchen gingen an dem Tag wohl nach Hause und wollten auch kurze Haare haben.
Dass ich bei so viel Autorität wie die von meinem Vater keine eigene Persönlichkeit entwickeln konnte, ist einzusehen, oder? Ich war sehr unselbständig bis ins Erwachsenenalter hinein; mein ganzes Denken war stets, was würde mein Vater in dieser Situation von mir erwarten, was ich tue? Oder was würde mein Vater dazu sagen, wenn ich dies oder jenes tue? Angst und Unsicherheit begleiteten mich ständig.
Zu diesem, was würde mein Vater sagen habe ich im September 2020 den Film „Was werden die Leute sagen?“ mir angeschaut und er hat mich ziemlich aufgewühlt und sehr an meine eigene Jugend erinnert. In dem Film wurden zwar Pakistani Muslime gezeigt die in Norwegen lebten, aber ihr Lebensstil und Lebenseinstellung waren die gleichen, wie der hier in der westlichen Welt bis vor 50 Jahren etwa auch noch war.
Man lebte so sehr mit diesem „man“. Man tut dies nicht, man tut das nicht, denn was werden die Leute denken und sagen … – man hat Menschen zu gefallen gelebt, nicht nach eigenen Wünschen und Neigungen. Doch so wie diese Eltern im Film „normale“ Leute waren, so waren auch meine Eltern normal und der damaligen Zeit entsprechend.
Und wie im Film war das auch bei meinen Eltern so stark geprägt, dieses den Leuten zu gefallen leben, wegen ihres Geschäftes und dessen Reputationsbewahrung. Doch in mir hat das nur einen Hass ausgewirkt und ein Bestreben, niemals so ein Leben zu führen, wie das meiner Eltern, niemals irgendjemandem zu gefallen leben.
Solch alte Traditionen sind schwer zu brechen. Es ist so stark in den Menschen verankert, es braucht so etwas wie ein Erdbeben, das alles Alte erschüttert, damit Menschen eine wirklich vollständige Änderung ihrer Denkweise und Einstellung in ihren Herzen bewirkt (so ungefähr was Corona heute mit uns bewirkt). Obwohl ich so vieles gehasst habe, habe ich doch trotzdem manchmal automatisch das gleiche getan, wie meine Eltern es mir vorgelebt haben.
Die extreme Strenge gegenüber Kindern hat Deutschland nach und nach abgelegt. Der Rohrstock in Schulen wurde in unserer Schule 1957 abgeschafft, als ich in die 2.Klasse kam. Eine Tatze war so schmerzhaft, der Schmerz der durch meine Hand und den Arm und ganzen Körper ging wie ein Stromschlag, dass ich sie fast noch bis heute spüre. Ich habe zwar den Punkt sofort mitbekommen, dass ich in der Schule nicht schwatzen darf, aber die Methode ist schon ziemlich krass. Es hat noch Jahre gedauert, bis auch die körperliche „Züchtigung“ für Eltern verboten wurde. Ich lag mit 16 zum letzten Mal auf dem Boden, niedergeprügelt, weil ich, wie mein Vater dachte, nicht getan hatte was er mir geraten hat. Geraten wohlgemerkt, er hat nicht gesagt, ich muss das tun, sondern er riet mir. Doch wie ich später als üblich nach Hause kam, nahm er an, dass ich seinen Rat nicht befolgt hatte. Doch die bestimmte Sache hatte sich tagsüber von selbst aufgelöst und ich brauchte seinen Rat gar nicht zu befolgen. Doch er hat voller Wut sofort auf mich eingeschlagen ohne vorher zu hören, was war und wo ich herkomme. Später habe ich meiner Mutter alles erklärt, aber mein Vater hat sich nie entschuldigt. Ein sich gegenseitig Aussprechen kannte er nicht, hatte er selbst auch nie von seinen Eltern gelernt.
Mir war das schon irgendwie klar in meinem Kopf, warum mein Vater so war oder geworden ist, aber für mich gab es nur noch das eine, weg von zu Hause, weg von dieser Enge, der Engstirnigkeit, Kleinbürgerlichkeit, und auch weg von diesen Ängsten von was ist wenn … – einfach nur weg von allem.
Doch damals wurde man erst mit 21 volljährig, ich musste also noch lange darauf warten. Was da so noch alles geschah, erzähle ich euch ein andermal wenn ihr wollt.
Doch hier nur noch ein Bild, von einem der vielen glücklichen Moment, die ich genauso hatte. Schulen hatten zu der Zeit noch ein jährliches Schulfest, bei dem die verschiedenen Klassen sich ein Thema wählten, zu dem sie sich passend verkleideten. Wir marschierten dann von der Schule mit der Humbabakapelle voraus, durch den Ort, bis zum Festgelände mit einem Festzelt und Karussells und Verkaufsbuden – damals wusste man noch in Gemeinschaft zu feiern, so ziemlich der ganze Ort war dabei.
Meine Klasse, bzw. unser Lehrer entschied, wir würden ein Lied singen und im Festzelt dann aufführen, das von einem Wanderburschen handelte – hab‘s in der Zwischenzeit vergessen, welches Lied das war.
Wir mussten uns dazu die Kleider selbst besorgen und ich war stolz wie mein Vater mich dazu ausstaffierte – alles selbstgeschneidert aus alten Klamotten, aber jetzt wieder wie neu aussahen. Die Weste war rot und auch die Kappe, Hose und Schürze blau. Auf dem Bild sieht man links oben meinen Vater voller Stolz stehen und ich weiß, er musste in seinem Leben genauso gegen alle möglichen Ängste, Minderwertigkeitsgefühlen und einem Mangel an Selbstwertgefühl kämpfen, so wie ich, was mich ihn zu gleicher Zeit lieben und hassen machte.
Ich stehe auf dem Bild vor unserem ersten nagelneuen, apfelgrünen Auto, einem DKW Junior. Er wurde spottend Deutscher Kinderwagen genannt, weil er noch als Auto ziemlich in den Kinderschuhen steckte. Verbessert wurde er dann zum Audi. Aber so wie ich als erste einen Kurzhaarschnitt hatte, so hatte mein Vater als erster in der Nachbarschaft sich ein Auto angeschafft. Er brauchte es geschäftlich, da er noch eine Filiale im Nachbarort aufgemacht hatte. Meine Mutter führte das Geschäft im Haus wo wir wohnten und mein Vater die Filiale. Ich denke, das war für meinen Vater eine Gelegenheit, ein wenig von seiner Mutter wegzukommen. Nach dem Tod meiner Oma gab er die Filiale auf und vergrößerte und modernisierte das Hauptgeschäft.
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P.S. Es gibt von Elvis Presley ein paar Lieder die zu meinem Erzählten darin passen, dass sie mich damals ziemlich berührt haben – Englisch verstand ich damals sowieso nicht oder nur sehr wenig:
Are You Lonesome Tonight
In The Ghetto
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Wie ich dieses Bild von mir mit meinen kurzen Haaren (ich war damals 13-14) eingesetzt habe, wollte ich den Unterschied von mir heute sehen:
Dazwischen liegt ein langes Ereignisreiches Leben!
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